Armut grenzt aus

Europäisches Jahr 2010
Europäisches Jahr 2010

Die Europäische Kommission hat das Jahr 2010 zum europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung ausgerufen. Ziel ist vor allem auf die vielfältigen Ursachen und Auswirkungen von Armut aufmerksam zu machen. Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Armutsrisiken und betroffenen Menschen sollen abgebaut und vor allem Ansätze zu deren Überwindung aufgezeigt werden.

Auch in Deutschland sind viele Menschen arm, obwohl viele das nicht wahrhaben wollen, leben wir doch in einem wohlhabenden Land. Chancenlosigkeit, Benachteiligungen und Diskriminierungen zeigen sich aber vor allem in der relativen Armut. In einer reichen Gesellschaft bedeutet Armut, abgekoppelt von durchschnittlichen Einkommen nicht mithalten zu können, am gesellschaftlichen Leben nicht teilzuhaben.

Leipzig hat letzte Woche die ersten Zahlen aus dem Lebenslagenreport der Stadt veröffentlicht. Und die sehen nicht gut aus: von 2004 bis 2008 stiegen die Aufwendungen für soziale Sicherung in Leipzig von 319 auf 505 Millionen Euro, der Niedriglohnsektor wurde in den letzten Jahren massiv ausgeweitet. Von den Alleinerziehenden in Leipzig sind 58 Prozent arm. (L-IZ berichtet hier).

Besonders für Kinder heißt dies, Ausschluss von vielen Sport- und Kulturangeboten sowie Mobilität. An selbst zu finanzierenden Klassenfahrten und außerschulischen Veranstaltungen, an Instrumenten und Musikunterricht, an Büchern und Spielzeug sowie gesunder Ernährung wird gespart. Kindheitsprägende Familienurlaube finden nicht statt und eigene Geburtstagsfeiern mit Freunden werden zum seltenen Ereignis.

Dies alles geschieht nicht, weil Eltern vorhandene Mittel lieber anderweitig ausgeben, wie viele Kritiker gerne behaupten. Nein es geschieht, weil bedürftige Familien immer noch nicht im Zentrum der Familienpolitik stehen. Die Bundesregierung betreibt eine Klientelpolitik, die diejenigen auslässt, die materielle Unterstützung umso mehr brauchen: Das Kindergeld wird um 20 Euro erhöht, während der Freibetrag für Kinder von derzeit 6024 Euro auf 7008 Euro steigt. Das entlastet Spitzenverdiener um rund 40 Euro, also doppelt so hoch wie Familien mit mittleren und geringen Einkommen. Das ist ungerecht und unsozial. Noch größer wird aber die Kluft für die Kinder in hilfebedürftigen Familien im Bezug von Arbeitslosengeld II und in der Grundsicherung. Diese gehen leer aus, denn das Kindergeld wird auf das ALG II angerechnet, vom Freibetrag profitieren sie nicht.
Viele Eltern durchschauen auch gar nicht das bürokratische Beantragungssystem oder schämen sich, ihnen zustehende Leistungen aufgrund der unsäglichen Bedürftigkeitsnachweise in Anspruch zu nehmen. Sie werden allein gelassen, vielmehr noch ihre Kinder. Es ist die Aufgabe des Staates die Interessen der Kinder, ihre Rechte und ihre Zukunft zu sichern! Denn Armut hat gravierende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Kinder und Jugendlichen. Sie können ihre Potenziale nicht angemessen entwickeln und werden besonders in Deutschland, wo die soziale Herkunft besonders stark auf die Bildungsabschlüsse wirkt, nicht genügend gefördert. Auch im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenlebens können wir das nicht zulassen!

Wir brauchen deshalb eine Neustrukturierung der bestehenden  Familienförderung. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die alle Kinder unabhängig vom Familienstand der Eltern fördert, die wirkliche Teilhabe ermöglicht und eine Mischung aus materieller Förderung und einer für alle Kinder und Jugendlichen zugänglichen Infrastruktur ist. Beides gegeneinander auszuspielen bringt nichts.

Informationen zum Europäischen Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung findest du hier und hier

Stephan Lessenich, Soziologe aus Jena, hat zum Thema „Alles relativ. Warum es in Deutschland keine Armut geben darf“  hier einen interessanten Artikel geschrieben.