70 Jahre Volksaufstand: Freiheit nutzen heißt Demokratie leben

Redebeitrag der Abgeordneten Dr. Claudia Maicher (BÜNDNISGRÜNE) zur zweiten Aktuellen Debatte auf Antrag der CDU-Fraktion „19. Juni 1953: Gedenken an 70 Jahre Volksaufstand – Von der Sehnsucht nach und dem Bewahren von Freiheit“

72. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 1.6.2023, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen,

der 70. Jahrestag des 17. Juni 1953 gibt uns Anlass, den Opfern zu gedenken und das Erinnern an den Kampf um die Freiheit wach zu halten. Wir dürfen die Menschen nicht vergessen, die für ihre Rechte gekämpft haben und dafür leiden mussten.

Herr Kollege ist bereits darauf eingegangen, welche Bedeutung der 17. Juni in Sachsen hatte und wie das Gedenken im Freistaat realisiert wird.

Diese Erinnerung wird weiterhin wichtig sein, um die deutsche Geschichte zu verstehen. Und sie ist wichtig um die Auseinandersetzung mit der Diktatur in der DDR zu einer Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart, mit der Entwicklung von Demokratie und Freiheit zu nutzen.

Aber mir bereitet heute etwas anderes große Sorge: Was nützt uns das offizielle Gedenken eigentlich, wenn in der alltäglichen politischen Kultur keine Lehren daraus gezogen werden? Gerade die Erinnerung an die erkämpfte Freiheit sollte uns darüber nachdenklich stimmen, wo wir heute stehen.

Es ist unsere Verantwortung, Freiheit zu wahren und verantwortungsvoll mit Macht umzugehen. Ich frage Sie, wo stehen wir denn heute, im Frühsommer 2023?

Nächstes Jahr haben wir mehrere Wahlen. Schon jetzt übersteigt die Rhetorik die Schärfe vergangener Wahlkämpfe. Der billige Ideologievorwurf an uns BÜNDNISGRÜNE gehört für mich schon zum täglichen Morgenrauschen.

Aber wenn dann von Planwirtschaft oder gar Autokratie fabuliert wird, weil einem die politischen Ziele einer Bundesregierung oder anderer Parteien nicht schmecken? Wenn jede Veränderung als Angriff auf die Freiheit verteufelt wird? Dann frage ich, ist das verantwortungsvoll?

Ich bin immer noch entsetzt über die von vielen verbreitete „Energie-Stasi“-Kampagne. Gehen wir so mit historischen Fakten um, nur um den demokratischen politischen Gegner zu schwächen? Damit verhöhnt man nicht zuletzt die Opfer von Repression und Zersetzung. Aber wir müssen hier keinen historischen Beweis führen. Es ist auch keine Frage des politischen Stils. Das Problem ist viel größer!

Wer heute aus kurzsichtigem Machtkalkül rhetorische Treffer landen will, und bei Kritik so tut, als ginge es nur um Sachpolitik, der beschädigt das Vertrauen in demokratische Politik als Ganzes. Wer den Demokratieverachtern nach dem Munde redet, macht sie stärker und untergräbt damit das Fundament seines eigenen demokratischen Handlungsraums. Das ist das Problem!

Wenn es eine Lehre aus der Geschichte gibt, dann die:

Dem Reden folgt Handeln.

Ich fordere die Risikobereiten unter den Demokraten auf: Kommen Sie zur Besinnung! Wenn Ihnen diejenigen applaudieren, die sich in einer „links-grünen Meinungsdiktatur“ wähnen, von der man sich befreien muss – wie es Menschen in ihrem Freiheitskampf 1953 gewagt haben – dann muss doch auch den Letzten klar sein, welch Spiel mit dem Feuer das ist.

Ich kann hier nur an Vernunft und Weitblick appellieren! Wenn Gedenken nicht nur Folklore sein soll, dann gilt es Freiheit zu wahren und zu nutzen.

Verzichten wir z.B. auf diese maßlos überzogene Identitätspolitik des Ostdeutschseins oder des homogenen Sächsisch-Seins, die nicht trennt zwischen tatsächlichen und imaginierten Benachteiligungen.

Die die Bürgerinnen und Bürger von den Transformationen und Krisen unserer Zeit geistig abschirmt, sie zu Opfern erklärt, statt sie zu bestärken.

Freiheit nutzen heißt Demokratie leben! Die Überwindung des SED-Regimes begründet für uns BÜNDNISGRÜNE ein positives Selbstbewusstsein, gerade für uns Ostdeutsche. Wir können unsere Zukunft heute selbst in die Hand nehmen.

Ängste sollten wir ernst nehmen, aber doch nicht anfeuern. Fördern wir stattdessen den Mut und die Stärke, die es braucht, um sich den Herausforderungen zu stellen und im demokratischen Miteinander um die besten Lösungen zu streiten. Den demokratischen Richtungsstreit müssen wir pflegen und aushalten. Dann steht das Gedenken und die politische Kultur auch wieder in Einklang.