20 Jahre Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen

bei der Festrede
bei der Festrede

20 Jahre Als sich vor 20 Jahren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen gründete, verbanden das Bündnis 90 und die Grüne Partei die Erfahrungen des Herbstes 1989, der tiefe Wunsch nach Demokratie und Mitbestimmung und die Erfahrungen der Selbstwirksamkeit während der friedlichen Revolution – also die Gewissheit, wir können gemeinsam in einem Bündnis aus verschiedenen Bewegungen mehr erreichen.

Aktiv werden und für eigene Werte öffentlich einstehen um gesellschaftlichen Wandel zu gestalten – Werte wie die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Freiheit, Bürgerrechte, Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung und die Mündigkeit der Bürger und Bürgerinnen – das war der Anspruch.

Von Anfang an verstanden wir unter politischem Engagement und politischer Verantwortung sowohl die parlamentarische Arbeit als auch gleichzeitig die außenparlamentarische Arbeit. Wir waren und wir sind Bürgerinnen und Bürger für Bürgerinnen und Bürger.

Dass Menschen nicht nur Wähler sind, sondern aktiv in der Politik mitmischen können ist bis heute Grundverständnis unserer politischen Arbeit. Menschen dazu zu ermutigen sich einzubringen, und dieses Einbringen dann auch ernst zu nehmen, wird aber bis heute in der sächsischen Politik kaum Raum gegeben. Das wollen wir ändern.

Wir waren hier in Sachsen die ersten bundesweit, die sich als Bündnis90/Die Grünen gegründet haben. Wir waren Avantgarde, aber keine Avantgarde im ursprünglichen Sinn als militärische Speerspitze, sondern vielmehr mit dem Anspruch als Handelnde die ausgetretenen Pfade zu verlassen und kreativ und innovativ neue Wege zu suchen – als Zukunftsdenker und Modernisierer!
Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Ökologie waren und sind bei dieser Modernisierung die Klammer die wir setzen – ohne die kann keine dauerhafte erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen funktionieren. Wir denken deshalb Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Ökonomie im Wesen zusammen. Das unterscheidet uns ganz maßgeblich von allen anderen politischen Parteien.
Wir wissen, wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt. Doch auch in den letzten Jahren verschwendete die Menschheit in atemberaubender Geschwindigkeit dieses Geschenk: Die Ölpest im Golf von Mexiko und das Hochwasser in Pakistan letztes Jahr waren von katastrophalem Ausmaß. Die furchtbare Atomkatastrophe von Fukushima, deren Folgen bis heute noch nicht abzusehen sind und die Explosion in der südfranzösischen Atomanlage Marcoule in dieser Woche; die schlimme Ölpipeline Explosion mit weit über 100 Todesopfern in Nairobi vor 5 Tagen: das alles hat mit unserem eigenen Handeln, unserem Konsumieren und unserem Leben zu tun.

Auch direkt vor unserer Haustür in Sachsen erleben wir Tornados und immer wieder großflächige Überschwemmungen, die ganze Ortschaften verwüsten. Wir erfahren zu heiße Sommerperioden und extreme Winter. Unsere Städte werden sich zukünftig wandeln. Heftige Unwetter wie am letzten Wochenende bedrohen Ernten, zerstören Existenzen und verursachen massive Kosten.
Die Probleme verschärfen sich unaufhörlich und doch leben wir immer noch weit über unsere natürlichen Verhältnisse. Wir Bündnisgrünen sind seit unserer Gründung Mahner und müssen es auch weiterhin konsequent sein.

Wir haben Themen gesetzt, die nicht beliebt und populär waren, die später Wahrheit geworden sind und die uns auch gemeinsam stark gemacht haben:
Wir haben in Sachen Klimaschutz und erneuerbare Energien, Nachhaltigkeit und umweltschonendem Energieverbrauch eine Vorreiterrolle eingenommen und sind seit unserer Gründung konsequent für eine zukunftsweisende Klimaschutz- und Energiepolitik eingetreten.

Wir haben uns stets gegen die Abbaggerung der Städte und Dörfer in Sachsen gewehrt –  viele hätten nicht gedacht, dass die Vertreibung durch Braunkohle nach 1989 weitergeht, dass auch heute noch Heimat zerstört wird um die Profitinteressen der großen Energieversorger zu befriedigen.

Könnt ihr euch an die Bilder erinnern als 2007 die Emmauskirche von Heuersdorf wegtransportiert und nach Borna versetzt wurde? Ein trauriges Bild: eine alte Kirche,  Sinnbild für Heimat, Ruhe und Entschleunigung, wird auf einem Sattelschlepper flexibel – wie unsere Zeiten so sind – befördert und ebenso entwurzelt wie ihre Besucher.

Wir haben früh die überbordende Straßeninfrastruktur, die in Sachsen wuchs, angemahnt. Sachsen hat ein wohlausgebautes Netz, die infrastrukturellen Standortbedingungen sind vielerorts erfüllt und trotzdem ist Sachsen in den letzten Jahren immer Spitze bei den Abwanderungen besonders junger Menschen geblieben. Vielleicht sind die Straßen zu breit, die aus Sachsen wegführen?

Beton statt Köpfe hat nie funktioniert. Im Gegenteil: unheimliche Kosten der Unterhaltung, Sanierung stehen uns bevor wenn immer weniger Einnahmen und immer weniger Bevölkerung die steigenden Kosten der vorhandenen Infrastruktur stemmen müssen. Das nimmt den wahren Zukunftsinvestitionen die Luft!

Was haben diese massiven Veränderungen der letzten Jahre mit uns – mit der Partei – gemacht?

Bei unserer Mitgliederzahl waren wir in den letzten 20 Jahren viel in Bewegung. Es gab Wellen der Eintritte besonders in Zeiten der Wahlkämpfe, die traditionell unsere Sympathisanten mobilisieren und Interesse wecken. Vielleicht auch, weil wir in manchen der vergangenen Jahren dazwischen nicht genug sichtbar waren? Oder auch weil Wahlen immer noch häufig als einzige Art politischer Mitbestimmungsmöglichkeit überhaupt wahrgenommen werden?

Es gab auch Phasen von Austritten. Zwischen 1998 und 2002 spürten wir diese besonders deutlich. Viele hat das geschmerzt, nicht nur weil Wegbegleiter und kritischer Geist verloren gingen sondern damit auch manche Diskurse, die für unsere Partei so wichtig sind. Gerade für uns Bündnisgrüne waren das schwierige Zeiten, weil wir Resignation und das Zurückziehen nicht als geeignete Antwort zur Problemlösung sehen. Für uns ist das Ringen um geeignete Positionen eben keine Zeitverschwendung und keine Führungsschwäche, sondern Kern unserer politischen Kultur.

Manche von denen, die uns verließen haben später wieder zu uns gefunden, einige haben sich abgewendet. Aber viele haben deutliche Spuren hinterlassen – und das hat uns reifer gemacht auch das gehört zum Älterwerden dazu!
Es sind aber auch viele neue Gesichter und mit ihnen Biografien und Ideen zu uns gekommen. Wir bewegen uns: noch nie waren wir so groß, bald 1300 Bündnisgrüne sind heute unser Landesverband. So viele Menschen wie noch nie in unserer 20-jährigen Geschichte bekennen sich zu GRÜNER Politik und wollen Verantwortung für sich, für ihre Kinder und ihre Mitmenschen für ihr Umfeld und ihre Umwelt übernehmen. Das tut uns allen gut – das tut Sachsen gut!

Und das hat auch und vor allem sehr viel mit euch zu tun, liebe Freundinnen und Freunde, mit eurer Arbeit vor Ort, sei es als Abgeordnete, in den Kommunalparlamenten, Kreisvorständen, inhaltlichen Arbeitskreisen oder auf der Straße. Für euer Engagement ein ganz herzliches Danke!

Was damals zu unserer Gründung ungewöhnlich war, ist heute ausbaufähig: ein Drittel unserer Gründungsmitglieder waren Frauen. Das war im Vergleich zu anderen Parteien wegweisend, gemessen an unseren eigenen Ansprüchen können wir heute nicht zufrieden sein. Nicht einmal 30 Prozent unserer Mitglieder hier in Sachsen sind Frauen. Das ist im Vergleich aller grünen Landesverbände der niedrigste Wert. Aber das werden wir ändern. Anmut im Angriff – so heißt unser neues Frauenförderprogramm.

Dafür sind wir jung, nicht nur als Partei sondern auch in unserer Mitgliedschaft – 41 Jahre im Durchschnitt – und damit viel jünger als unsere Bundespartei und erst recht als unsere politischen Mitbewerber.

Wir alle erleben Zuspruch und Unterstützung nicht mehr nur in den großen Städten, auch wenn da immer noch die meisten zu uns stoßen und auch wenn Bündnis90/Die Grünen deshalb immer noch als urbane Partei wahrgenommen werden. Aber wir werden stärker in den Landkreisen. Die Kreisverbände wachsen, es entstehen immer mehr Ortsverbände, zahlreiche im letzten Jahr. Menschen mit neuen Ideen und dem Willen Verantwortung zu übernehmen sehen in uns Bündnisgrünen ihre Partnerin. Sichtbarkeit ist enorm wichtig, denn da wo wir nicht sind kann keiner zu uns kommen!

Im Jahr 2004 waren wir in Sachsen wieder einmal Vorreiter. Nachdem wir 1994 – ebenso wie auch in Thüringen und Brandenburg und 1998 auch in Sachsen-Anhalt nicht mehr in die Landesparlamente einziehen konnten, ist es gelungen in einer politisch nicht einfachen Situation mit ganzer eigener Kraft die ausschließliche außerparlamentarische Opposition zu beenden und endlich wieder den Landtag zu begrünen. Das wurde auch Zeit!

Gerade in diesem für uns so wichtigen und freudigen Jahr ist es deshalb auch so befreiend, dass für Bündnis90/Die Grünen, die vor 22 Jahren diejenigen waren, die den Prozess der friedlichen Revolution maßgeblich mitbestimmt haben, heute überall im Osten die Parlamentstore offen stehen. Wir tragen überall Verantwortung als politische Kraft und zwar als nicht mehr wegzudenkende politische Kraft – aktuell überall in der Opposition, aber auch das wird sich ändern.

Grüne Politik ist aus der Nische in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Unsere Themen sind da wo sie sein sollen, andere Parteien schreiben bei uns ab: Und das freut uns! Denn die Menschen im Land sehen, wo die Urheber sitzen – und wer die Plagiatoren sind. Nicht umsonst haben wir dieses Jahr überall in den Ländern so breite Zustimmung zu unseren Themen, zu unserem Politikverständnis zu unserer Demokratiekultur gewonnen.

Vielleicht haben wir uns manchmal zu viel eingerichtet in den letzten Jahren in unseren Nischen mit unseren Verbündeten. Jetzt ist es Zeit noch mehr herauszukommen, zu zeigen was Bündnis90/Die Grünen vor Ort gestalten wollen. Wir müssen einladender für neue Kreise sein, ohne uns von unseren engeren Kreisen zu entfernen. Wir sind ein Bügerbeteiligungsmodell und stehen für eine Politik des Mitmachens, der Mündigkeit, der gelebten Demokratie.
Deswegen halte ich auch nichts von der vermeintlichen Alternativlosigkeit der aktuellen Regierungspolitik: wir können handeln und wir können aus Alternativen wählen. Und da gibt es nicht nur ein schwarz oder weiß, sondern differenzierte Möglichkeiten. Wir Bündnisgrüne ringen manchmal für Außenstehende bis zur Unerträglichkeit um gute, um innovative Lösungen damit wir das bewahren was uns trägt und ändern was uns stört.

So verstehe ich Verantwortung: nach tragfähigen Lösungen suchen und dann konsequent an Umsetzung arbeiten z.B. für den dringend notwendigen ökologisch-sozialen Umbau der Gesellschaft.

Prof. Edenhofer vom Potsdamer Institut für Klimafolgenschätzung hat das einmal so beschrieben: der Klimawandel, die Rohstoffknappheit und die Menschen sind ähnlich wie eine Mauer und ein auf diese Mauer zusteuerndes Auto. Die Handlungsalternativen bestehen in dieser Situation nicht nur aus Vollbremsung oder Vollgas – das ist die neoliberale Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit – sondern auch im Umlenken. Dem Fortschritt muss im 21. Jahrhundert durch das Setzen neuer ökologischer Leitplanken eine neue Richtung gegeben werden.

Wir werden in Sachsen gebraucht, weil wir schlecht regiert werden:
Solange es Regierende immer noch als Standortvorteil sehen, wenn die Bürgerinnen und Bürger ruhig halten und ihre Meinung nicht sagen, solange Regierende bürgerlichen Widerstand als fortschrittsfeindlich sehen und sich damit brüsten, dass keines ihrer Großprojekte am Bürgerprotest scheitern würde, solange reden wir von Demokratiedefiziten, gegen die wir ankämpfen. Wir stehen für eine andere Kultur der Demokratie! Wir wollen eine lebendige Demokratie und keine formal geregelte.

Es braucht starke Bündnisgrüne weil wir die einzigen sind, die es als Aufgabe ihrer Generation ansehen die Energiewende beherzt anzupacken. Andere machen daraus eine Generationenaufgabe die irgendwann in 100 Jahren vielleicht abgeschlossen sein soll. Das ist aber keine Zukunftsaufgabe sondern ein Thema unserer Generation und unserer Zeit.

Wir werden auch gebraucht, weil Teilhabe, Bildungsinvestitionen und soziale Leistungen und Angebote hier in Sachsen immer mehr als Sahnehäubchen gedacht werden, die man sich leisten kann ohne die es aber auch geht – je nach Geschmack. Für uns ist sozialer Zusammenhalt und soziale Sicherheit aber keine freiwillige sondern eine politische Aufgabe.

Es braucht stärkere Bündnisgrüne in Sachsen auch deshalb, weil wirtschaftlicher Erfolg immer noch zu stark an Gewerbegebieten und Straßenkilometern gemessen wird und nicht an Innovation, dauerhaftem Erfolg, Ressourceneffizienz und fairen Arbeitsbedingungen.

Die Zustimmung zu Grünen Konzepten war nie größer. Sonne und Wind gegen Atomkraft und Braunkohle; Gehörtwerden und Mitbestimmen statt Alternativ- und Perspektivlosigkeit; Mündigkeit und Demokratie statt Handygate und Extremismusklausel; Teilhabe am gesellschaftlichen Leben statt Ruhigstellung sowie Bewahrung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Wir werden von der Zukunft gezogen und nicht wie die anderen von der Vergangenheit getrieben.

Nichts bleibt wie es ist, doch manches ist von Dauer. Ich glaube unsere Stärke ist das gleichzeitig zähe Beharren auf das, was uns trägt, das was wir erhalten müssen und was wir vererben wollen und auf der anderen Seite die Einsicht notwendige Veränderungen entschlossen anzuschieben und die Herausforderungen unserer Zeit zu gestalten.

In den letzten 20 Jahren haben wir durchgehalten. Jetzt sind diese Zeiten vorbei, jetzt geht es nicht mehr ums Durchhalten, sondern darum, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Als wir, BÜNDNIS 90/ DIE Grünen uns am 27. September 1991 in Zwickau gegründet haben lauteten die Schlagzeilen in der Presse: „Klassisches Parteienmuster verändern durch Bürgernähe“, „erfrischend anders“, „Signalwirkung für gemeinsame Arbeit“ oder „dem Herbst 1989 verpflichtet“. Das alles nehmen wir auch heute noch für uns in Anspruch, deshalb sind das Schlagzeilen, die ich mir auch für heute noch wünsche!

(Auszüge aus einer Rede anlässlich der Feier 20 Jahre BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen)